Der Kreis um Kelsen
Die alsbald einsetzende Wirksamkeit der Reinen Rechtslehre zeigte sich namentlich am wachsenden Kreis von Schülern und Schülerinnen, die als "Wiener Rechtstheoretische Schule" zusammengefasst werden kann. Es ist festzuhalten, dass unbeschadet der herausragenden Stellung Kelsens manche wichtige Elemente der Reinen Rechtslehre in diesem Kreis mitgeprägt wurden, so namentlich die von Merkl entwickelte Stufenbaulehre.
Institutioneller Ausgangspunkt war dabei ein Privatseminar, das Kelsen an der Universität Wien abhielt. Als Hörer der ersten Stunde sind beispielsweise Leonid Pitamic sowie Adolf J. Merkl und Alfred Verdross zu nennen, wobei die letzteren beiden besondere Hervorhebung verdienen. Nach dem Ende des ersten Weltkrieges stießen sukzessive weitere Studierende, Habilitanden oder junge Dozenten hinzu, etwa Walter Henrich, Felix Kaufmann, Josef L. Kunz, Fritz Sander, Fritz Schreier, sowie später Josef Dobretsberger, Erich Voegelin. Ein vermehrter, auch internationaler Zustrom war dann in den 1920er-Jahren zu verzeichnen: zum Beispiel Alf Ross aus Dänemark, Charles Eisenmann aus Frankreich, Julius Kraft aus Deutschland, Luis Legaz y Lacambra und Luis Recaséns Siches aus Spanien sowie Marinus Maurits van Praag aus den Niederlanden, aber auch Tomoo Otaka aus Japan und Wiktor Sukiennicki aus Polen.
In dieser Schule wurden nun viele Ideen in verschiedene Richtungen entwickelt, es fand ein Gedankenaustausch in einem freien geistigen Klima statt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass viele Weggefährten eigene Standpunkte bezogen, die von jenen Kelsens auch abweichen konnten. Kelsen selbst nennt in dieser Hinsicht im Vorwort zur 1. Auflage der "Reinen Rechtslehre" (1934) seinen Kreis eine "Schule … nur in dem Sinne …, dass hier jeder versucht, vom anderen zu lernen, ohne darauf zu verzichten, seinen eigenen Weg zu gehen". Einige Weggefährten Kelsens wandten sich auch gänzlich von seinen Grundpositionen ab und entwickelten ganz eigene Rechtstheorien, zum Beispiel Ross und Sander. Im Band 30 der Schriftenreihe des Instituts werden 28 Forschende mit einer kurzen Biographie und ihrem Beitrag zur Reinen Rechtslehre dargestellt.