Reine Rechtslehre
Hauptanliegen der Reinen Rechtslehre ist, - wie Kelsen in der ersten Auflage (1934) programmatisch schrieb -, "eine reine, das heißt: von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte, ihrer Eigenart, weil der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewusste Rechtstheorie zu entwickeln". Der Rechtswissenschaft möchte sie eine "ausschließlich auf Erkenntnis des Rechts gerichtete Tendenz" geben und ihre "Ergebnisse dem Ideal aller Wissenschaft, Objektivität und Exaktheit, soweit als möglich" annähern.
Dieses Hauptanliegen kommt in mehreren Stoßrichtungen der Reinen Rechtslehre zum Ausdruck. Von grundlegender Bedeutung ist die Trennung von Sein und Sollen: Die Rechtsgeltung (das Sollen) lässt sich nicht aus den Anordnungen einer - wenngleich effektiven - sozialen Autorität begründen (einem Sein). Deshalb muss eine die Rechtsqualität begründende Spitze aller Normen angenommen werden, die Grundnorm. Mit ihr lassen sich Anordnungssysteme so beschreiben, als ob sie gelten, ohne mit dem Seinscharakter der anordnenden Autorität in Konflikt zu geraten. Die Grundnorm wird mit der Reinen Rechtslehre theoretisch vorausgesetzt; sie sagt uns nicht, ob wir den Anordnungen der sozialen Autorität auch gehorchen sollen. Das ist ein Beispiel für die die gesamte Reine Rechtslehre durchziehende Ideologiekritik, also der Distanz zur politischen Macht. Von grundlegender Bedeutung ist weiters die Trennung von Recht und Moral: Dass etwas moralisch wünschenswert ist, heißt nicht, dass es deshalb Recht ist und umgekehrt. Ausgehend von diesem Rechtsbegriff entwickelten Kelsen und seine Schule zudem ein zweckmäßiges System zur Beschreibung des Rechts in Rechtsnormen, die zueinander in einem hierarchischen Verhältnis stehen: die sogenannte Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung, die maßgeblich von Adolf J. Merkl geprägt wurde.